Gelesene Ausgabe: Aufbau Verlage, Berlin 2022
Ein Zukunftsroman, der in der Vergangenheit oder, genauer, in verschiedenen Vergangenheiten spielt. Das Buch Zeitzuflucht des bulgarischen Autors Georgi Gospodinov beginnt mit der Idee, sich im Alter, wenn es nur noch wenig Zukunft gibt und die Gegenwart aufgrund der eigenen Vergesslichkeit schwindet, in eine subjektive glückliche Erinnerung zurückzuziehen.
Das Problem: Die Idee ist so verlockend, dass auch ganze Länder beschließen, statt vorwärts künftig rückwärts zu gehen. Doch welche Nationen bis in welche Zeit? „Das Glück ist unbeständig wie Milch in der Sonne, wie eine Fliege im Winter und ein Krokus im frühen Frühling. Sein Rücken ist zerbrechlich wie der einer Libelle. Es ist keine Stute, die du satteln und mit der du in die Ferne galoppieren kannst. Es ist kein Eckstein, um deine Kirche und deinen Staat darauf zu bauen. Das Glück geht nicht in die Lehrbücher der Geschichte ein (dort gehen die Schlachten, Pogrome, Verrat und die blutige Ermordung eines Erzherzogs ein), auch nicht in die Chroniken und Jahrbücher findet es Eingang“ (S. 251).
Daher sollen die Völker in nationalen Referenden selbst über ihren Wunschzeitraum entscheiden und so nehmen geschichtsinszenierende Wahlkämpfe ihren Lauf. Zeitzuflucht von Georgi Gospodinov zählt zu den lustigsten und ideenreichsten Büchern, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe, und ist zugleich sehr ernst. Denn „… so als würde etwas in der Zeit umschalten …“ (S. 323) wird aus (Schau-)Spiel Realität. Mit dem International Booker Prize 2023 ausgezeichnet. Grün.
August 2025