Gelesene Ausgabe: dtv, München 2015
Russische Autoren wie Tolstoi, Gontscharow und vorneweg Tschechow sind für mich Meister des melancholischen Schreibens. Melancholie verwende ich dabei nicht synonym für Depression. Vielmehr verstehe ich darunter eine Art Weltschmerz, in dem bei aller Schwermut immer auch eine positive Stimmung, nämlich ein Sehnen, eine tief empfundene Liebe zum Leben mitschwingt.
Genau dieses Fünkchen Lebensfreude, das sich literarisch oft in Kleinigkeiten widerspiegelt, in einem lichtdurchfluteten Zimmer oder einer in der Sonne glitzernden bunten Scherbe, fehlt mir in William Trevors Turgenjews Schatten. Der Roman ist in mehrfacher Hinsicht einfach nur traurig.
Er wechselt kapitelweise zwischen zwei Zeitebenen, den 1950er- und den 1980er-Jahren in Irland und handelt von einer jungen Bauerstochter, die erst den falschen Mann heiratet und sich anschließend ihrem Unglück hingibt. Die entscheidende Rolle spielt dabei ein kranker Cousin, in den sich die Protagonistin im Grunde erst nach dessen Tod verliebt. Geschickt eingefädelt, entflieht sie aus ihrem Leben in eine Nervenheilanstalt. Als sie diese 30 Jahre später verlassen muss, kehrt sie, wenn man so sagen kann, pro forma zu ihrem Ehemann zurück.
Wozu Trevor diesen Zeitsprung benötigt, erschließt sich mir nicht. Denn außer dass ein paar Romanfiguren gestorben sind, hat sich in diesen drei Jahrzehnten keine der verbliebenen Figuren innerlich entwickelt. Der Ehemann trinkt wie zuvor. Seine Schwestern sind falsch wie zuvor. Die Protagonistin liebt den toten Cousin wie zuvor und ihre Familie schaut ebenfalls wie zuvor schicksalsergeben dem Desaster zu. Puhh …
Weil Trevor feinfühlig die Seelenzustände seiner Figuren beschreibt, aus meiner Sicht trotzdem ein Gelb.
Juli 2020